Das Magazin der Tango Argentino Szene in Wien
Philosophicum Szene Wien

Ein Tangoabend am 19. November 1913

In sämtlichen Wiener Tanzinstitutionen wird jetzt Tango getanzt. Ist nun der Tango ein harmloser oder sittlich verwerflicher Tanz? Haben jene Moralisten recht, die ihn verdammen? Ist er graziös? Wird der Tango unseren alten Wiener Walzer verdrängen? Das Wiener Tagblatt vom 19. November 1913 ging diesen Fragen nach.

Ein Tangoabend

Vor einem Jahre erklang in Paris zum erstenmal in der Oeffentlichkeit der Name Tango. Der „Figaro“ brachte eine Sauserie über einen seltsamen argentinischen Tanz, der in einem vornehmen Nachtlokal getanzt wurde. Damit schien die Sache erledigt. Aber im Laufe weniger Wochen vollzog sich ein bis nun in der Tanzchronik noch nicht dagewesenes Ereignis. Der Tango, ursprünglich von Varietétänzern exekutiert, begann Aufsehen zu erregen und in Familien und Privatunterhaltungen einzudringen. Und mit einem Schlage fing auch die Pariser Boulevardpresse an, sich mit dem Tango eingehend zu befassen. Rundfragen wurden in Szene gesetzt. Der „Excelsior“ richtete an Literaten, Künstler und Gelehrte die Frage, was sie über den Tango denken. Die Frage gewann dadurch einen leidenschaftlichen Charakter, daß sich zwei Lager bildeten. Die einen rühmten den Tango als graziösen, durchaus dezenten Tanz. Andre wieder runzelten finster die Brauen, zeterten über seine Indenzenz und erblickten in ihm eine charakterliches Zeichen der modernen Dekadenz. Dieses Aufeinanderplatzen gegenteiliger Ansichten was das Glück des Tango. Er gewann immer mehr an Popularität, wurde während des letzten Sommers auch in allen französischen Kurorten und Seebädern getanzt und empfing seine Apotheose, als kürzlich der berühmte Dichter Jean Richepin, einer der vierzig Unsterblichen der französischen Akademie, bei der diesjährigen Plenarsitzung der fünf Institute der Akademie für den Tango eine Lanze brach.

Wir in Wien haben den merkwürdigen Aufstieg des argentinischen Tanzes als ruhige Beobachter verfolgt. Wir lächelten wohl auch ein wenig verwundert darüber, daß ein Tanz heutzutage noch derartig die Gemüter in Aufruhr zu bringen vermag. Aber auch bei uns vollzog sich ein seltsamer Umschwung. Der Tango hielt im Stillen seit Beginn dieser Saison auch bei uns seinen Einzug. Und zwei Monate genügten, um hier einen Tangofuror zu entfachen. In sämtlichen Wiener Tanzinstitutionen wird jetzt Tango getanzt, in allen Familien bildet der Tango das Tagesgespräch, und die Tanzlehrer, die den Anforderungen kaum entsprechen können, reiben sich die Hände und lächeln vergnügt. Ein Tangokurs ist nämlich ein sehr kostspieliges Vergnügen. Das Honorar für eine einzige Tanzstunde variiert zwischen 20 und 40 K. Und man findet, trotz der schlechten Zeiten, über die man so beweglich lamentiert, Geld dafür. Der Tango ist zwar, von einem rigoristischen Standpunkt betrachte, eine Überflüssigkeit, aber eine jener Überflüssigkeiten, von denen das Sprüchlein gilt: „Le superflu c’est le nécesaire.“ Ist nun der Tango ein harmloser oder sittlich verwerflicher Tanz? Haben jene Moralisten recht, die ihn verdammen? Ist er graziös? Hat er die Eignung in sich als Alleinherrscher den Walzer zu verdrängen? Das sind Fragen, die nunmehr auf der Tagesordnung stehen und die durch den jüngsten Erlaß des deutschen Kaisers neuerdingen heftig entfacht wurden. Wir glauben, daß man gut tut, diesen scheinbar so brennenden Fragen gegenüber ungetrübten Gleichmut und jene Milde zu bewahren, mit der der lachende Demokrit auf menschliche Torheiten herabblickt.

In der philosophisch ruhigen Auffassung des Tango hat uns der gestrige Abend im Zirkus Busch bestärkt, an dem der Tango im Dienste der Wohltätigkeit vor der großen Oeffentlichkeit debütierte. Die Veranstaltung fand zugunsten des „Invalidendank“ statt. Daß der Tango eine außerordentlich stark werbende Kraft besitzt, bewies schon der Umstand, daß der gewaltige Raum des Zirkus bis zum letzten Platz gefüllt war, wobei es allerdings auffiel, daß die Aristokratie und so manche jener Persönlichkeiten, die sonst stets dabei sind, der Veranstaltung fern blieben. – Um 10 Uhr, nachdem das übliche Programm des Zirkus Henry absolviert war, begann der „Clou“ des Abends. Sämtliche Tanzinstitute Wiens schickten ihre Tangotänzer und –Tänzerinnen ins Treffen. Das Publikum war in lebhafter Spannung. Die Musik setzte ein. Einige Pärchen erschienen auf dem Tanzpodium der Manege. Zunächst einige Worte über den musikalischen Teil des Tanzes. Da müssen wir nun leider gestehen, daß nach der Stichprobe, die uns gestern geboten wurde, der Tango, als Musikstück betrachtet, seine Provenienz verrät. Er ist durchaus primitiv, ja monoton, ohne Schwung, ohne Glut, und scheint auch nicht Elemente in sich zu enthalten, die einer musikalischen Bereicherung und Entwicklung fähig wären.

Der Tanz selbst – das muß gleich betont werden – verdient keineswegs den Bannfluch, den Moralisten gegen ihn geschleudert haben. Seine Grundelemente sind mehr oder weniger künstlich kadenzierte Pas in ruhigem Gleichmaß, sind wiegende, neigende Bewegungen des Oberkörpers, die mitunter scharf profiliert sind. Er bietet, wenn er kunstgerecht exekutiert wird, reichlich Anlaß, Grazie, Anmut und Beweglichkeit zu entfalten. Aber ein wesentliches, ja das wesentliche Element des Tanzes fehlt ihm: er hat keine Seele. Er reizt nicht hin, er packt die Tänzer nicht mit elementarer Kraft.

Aber seine Grazie, sein lässiger Rhythmus hat doch gewirkt. Fast nach jeder Darbietung rauschte stürmischer Beifall durch das Haus. Es zeigte sich aber auch, daß ihn nur vorzügliche Tänzer bewältigen können. Er ist gerade wegen seiner vielfach scharf profilierten Bewegungen ein Tanz, bei dem jeder Abfall von der Schönheitslinie grell auffällt. Manche Tanzpaare erfuhren denn auch eine ziemlich herbe Kritik, die aber, da sie nicht bös gemeint war, rasch durch versöhnenden Applaus wettgemacht wurde. Daß der Tango auch mit Temperament getanzt werden kann, bewiesen die Varietétänzer der hiesigen Vergnügungsetablissements, die sich nach den Regeln der Tanzinstitute produzierten. Sie bewiesen aber auch, daß der Tango doch auch Momente enthält, die in starker Auftragung unästhetisch und indezent wirken.

Wird der Tango unseren alten, lieben Walzer verdrängen? Der Schluß der gestrigen Produktionen hat diese Frage in sehr sinniger Weise beantwortet. Das Haus wurde plötzlich verdunkelt. Ein violettes Licht ergoß sich über die Tänzer und Tänzerinnen, die an allen Produktionen mitwirkten, leise erklangen die Rhythmen des Walzers „An der blauen Donau“, schwollen allmählich an und all das jugendliche Tanzvolk wirbelte auf einmal nach den wiegenden, wogenden Weisen des Walzers in anmutiger Verschlingung dahin. Es war eine Huldigung, die unserm Walzer dargebracht wurde, der – das dürfen wir nach den Erfahrungen des gestrigen Abends ruhig erklären – die Konkurrenz des Tango nicht zu befürchten braucht und nach wie vor seine altererbte souveräne Herrschaft in unsern Tanzsälen behaupten wird.

Unveränderte Transkription nach dem Original.

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