Das Magazin der Tango Argentino Szene in Wien
Philosophicum

Tango für den Kopf

Written by Susanne Donner

Tanz verändert den Geist wie kaum eine andere Sportart. Um komplexe Bewegungen wie Pirouetten auszuführen, setzt das Gehirn vor allem auf den Körpersinn. Und Profitänzer tanzen im Geiste immer mit, ob sie nur zuschauen oder selbst auf der Bühne stehen.

Tanz und Insekten haben auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam. Aber in Bettina Bläsings Lebenslauf folgt das Interesse für beide doch unmittelbar aufeinander: Als Doktorandin untersucht sie bis 2004, wie die Stabheuschrecke Aretaon asperrimus über große Lücken klettert. Sie beobachtet, wie das filigrane Insekt behutsam mit den Fühlern den Weg ertastet und die sechs Beine so koordiniert, dass es nie abstürzt. „Faszinierend“, findet sie.

In ihrer Freizeit tanzt Bläsing leidenschaftlich gerne Ballett: zeitgenössisches, klassisches und modernes. Zu gerne würde sie, genauso wie sie die Bewegungen der Insekten analysiert, auch ergründen, wie Tänzer komplizierte Schrittfolgen und Sprünge vollführen. Seither prägt Bettina Bläsing an der Universität Bielefeld das junge Feld der Tanzkognitionsforschung mit. Die Forschergemeinde wächst und wächst. Die führenden Köpfe sind mehrheitlich Frauen und – haben selbst getanzt, tanzen noch oder sind passionierte Tanztheaterbesucherinnen. Mittlerweile wird die Tanzkognitionsforschung auch von Wissenschaftlern außerhalb ihrer Disziplin wie auch von Tänzern ernst genommen. Bläsing arbeitet beispielsweise heute mit der international bekannten Kompanie des Choreografen William Forsythe zusammen.

Der ganze Körper spricht

„Tanz ist Bewegung im Raum“, rezitiert die Kognitionsforscherin eine verbreitete Definition von Tanz. Diese Interpretation lässt Künstlern Freiraum für eine schier unerschöpfliche Vielgestaltigkeit von Tanz. Ob der brasilianische Tanz Capoeira, Ballett oder Tango Argentino – der Formensprache scheinen keine Grenzen gesetzt.

Tanz ist wahrscheinlich älter als die menschliche Sprache und eine der frühesten Formen der non-verbalen Kommunikation, vermuten die Neurowissenschaftler Steven Brown von der McMaster University in Ontario und Lawrence Parsons von der britischen University of Sheffield. Als sie fünf Tangotänzer und fünf –tänzerinnen in einen Positronenemissionstomografen legten und zur Tangomusik die Beine bewegen ließen, fanden sie durchgängig, dass das so genannte Broca- Areal in der linken Gehirnhälfte aktiviert wurde. Dieselbe Region spricht an, wenn wir reden, aber auch wenn wir schweigen und lediglich ausgeprägte gestische Handbewegungen machen. Noch bevor dem Menschen Worte über die Lippen kamen, gab es Handbewegungen, glauben deshalb einige Sprachforscher. Und noch davor war die Körpersprache, setzen Parsons und Brown den Gedankengang fort.

Verschobene Sinnesverarbeitung

Doch Tanz wirkt sich auch langfristig massiv auf das Gehirn aus. Je professioneller der Tänzer, desto mehr verschiebt sich die Verarbeitung von Sinnesreizen zugunsten der Körperwahrnehmung. Nervenzellen in den Muskeln der entlegenen Körperregionen melden dem Cortex fortlaufend ihre Position und Lage im Raum. Dieser Sinneskanal ist für Profitänzer sogar wichtiger als das, was sie sehen. Das entdeckte die Neurowissenschaftlerin Corinne Jola, die zurzeit am Forschungsinstitut Inserm in Gif-sur-Yvette südwestlich von Paris arbeitet.

2008 lud sie Profitänzer und Nichttänzer zu einem Experiment, damals an das Institute of Cognitive Neuroscience in London: Die Probanden mussten sich an einen Tisch setzen, auf dem fünf Punkte markiert waren. Von der Tischunterseite her sollten sie mit dem Zeigefinger einer Hand auf die Position eines Punktes tippen und ihn dabei möglichst genau treffen. Dabei variierte die Forscherin die Bedingungen: Im ersten Durchgang waren die Versuchspersonen blind und konnten sich nur auf ihre Körperwahrnehmung verlassen – die Versuchsleiterin hatte den Zeigefinger der anderen Hand an die entsprechende Stelle auf dem Tisch manövriert. Im zweiten Durchgang konnten sie den Zielpunkt sehen, im dritten zusätzlich den zweiten Zeigefinger zu Hilfe nehmen.

Das Ergebnis des Experiments verblüffte: Die Berufstänzer schnitten zwar wie erwartet besser ab – aber nur dann, wenn sie nichts sahen. Und: Sie verließen sich auch dann noch bevorzugt auf ihre Körperwahrnehmung, wenn sie ihre Augen zu Hilfe nehmen konnten. In diesem Fall landeten sie weiter ab vom Punkt als Nichttänzer, die beide Sinne nutzten.

So dominant der Sinneskanal der Körperwahrnehmung bei Tänzern ist, scheint er nicht per se die erste Geige zu spielen. In Übungen, die den Gleichgewichtssinn auf die Probe stellen, schneiden Profitänzer beispielsweise genauso schlecht ab wie Bewegungslaien, wenn sie die Augen schließen. Nur mit offenen Augen sind sie diesen überlegen und können die Balance viel besser halten. Mehr noch: Wenn sie ins Wanken geraten, richten sie sich viel schneller wieder auf als Nichttänzer, entdeckte Roger Simmons von der San Diego State University. Ihre Muskeln übermitteln Lageinformationen, und mit dem Tanz lernt das Gehirn, auf diese viel rascher als üblich zu reagieren.

Komplexe Bewegungen in Einzelbildern

Aber was läuft im Gehirn ab, wenn Tänzer komplizierte Pirouetten und Sprünge ausführen, fragte sich Bläsing. Eine gute Körperwahrnehmung alleine genügt dafür nicht. Die Forscherin vermutet, dass die Künstler die Bewegung im Geiste in Teilschritte zerlegen. Etwa in die Vorbereitung zum Absprung, den eigentlichen Sprung und die Landung. Ob die Tänzer tatsächlich diese Vorstellung im Kopf haben, testete sie an insgesamt 70 Personen, darunter Profis, fortgeschrittene Amateure, Anfänger und Nichttänzer. Sie sollten eine bestimmte Pirouette an einem Computer nachstellen – mit einem eigens zur Analyse komplexer Bewegungen entwickelten Programm. Während der Aufgabe durften die Probanden aufstehen und selbst so viele Drehungen vollführen, wie sie wollten, um sich die Bewegung zu vergegenwärtigen. Fast alle Teilnehmer machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Nur die Profis kamen ohne tänzerische Praxis aus.

Sowohl die erfahrenen Bühnentänzer als auch die fortgeschrittenen Tänzer teilten die Pirouette im Geiste in die richtigen Einheiten ein. Die Anfänger und Laien konnten dies dagegen nicht. „Die korrekte Abfolge einer komplexen Bewegung im Langzeitgedächtnis ist die Voraussetzung dafür, dass die Bewegung akkurat ausgeführt wird“, leitet Bläsing daraus ab. Sie wunderte sich jedoch, weshalb Profis und fortgeschrittene Amateure in ihrem Test gleichauf lagen, obwohl ihre Pirouetten unterschiedlich aussahen. Als sie das Experiment verfeinerte, entdeckte sie 2012, dass sich nur die Bühnentänzer während der Drehung auch die Raumrichtung bewusst machten.

Im Geist mitgetanzt

Die Erkenntnisse werfen allerdings neue Fragen auf. Entstehen die richtigen Bilder im Kopf von selbst, wenn die Bewegung perfekt beherrscht wird, oder sind die richtigen Bilder im Kopf Voraussetzung, damit die Bewegung perfekt ausgeführt werden kann? Bis heute ist das offen. Klar ist nur, dass die tänzerische Praxis die Wahrnehmung von Tanz verändert. So berichtete die Londoner Tanzneurowissenschaftlerin Beatriz Calvo-Merino 2005 in einer ihrer ersten Studien, dass Balletttänzer mit einer starken Aktivierung im Netzwerk der Spiegelneuronen reagieren, wenn sie eine Ballettaufführung anschauen, nicht aber wenn sie brasilianischen Capeirotanz sehen. Dies fiel auf, weil sie die Künstler in einen Magnetresonanztomografen schob und die Durchblutung der verschiedenen Areale studierte, während diese Video schauten. Die Durchblutung ist ein Maß für die neuronale Aktivierung.

In ihrer neuesten Studie konnte Bläsing offenlegen, dass die Profis eine neue Bewegungsabfolge auch anders lernen. Sie merken sich viel größere Bewegungsabschnitte als Anfänger und Tanz-Unerfahrene. Dabei teilten sie die Phrasen (Abschnitte) einer Choreografie mitunter danach ein, wie viel Energie sie dafür brauchten. Die Anfänger unterteilten dagegen zwischen Sequenzen mit Bein– und Armbewegungen und segmentierten sozusagen den Körper – eine Vorgehensweise, die den Profis fern lag. „Man kann nur beurteilen, wie viel Kraft ein Abschnitt erfordert, wenn man sich ihn mental vorstellen kann“, erklärt Bläsing. Sie ist deshalb überzeugt, dass Profis im Geiste mittanzen.

Angeregtes Publikum

Doch auch das Publikum lässt die Symphonie bewegter Körper nicht kalt. Besonders gut gefallen schwierige akrobatische Einlagen, weiß Calvo-Merino aus Hirnscans, die sie mit Befragungen kombinierte. Und Corinne Jola zeigte im März 2012 im Journal PloS One, dass Zuschauer, die regelmäßig Ballettdarbietungen anschauen, mit erhöhter Erregbarkeit der motorischen Kerngebiete auf bestimmte Ballettbewegungen reagieren. „Geübte Zuschauer haben eine erhöhte Motorresonanz. Ob das eine Folge des häufigen passiven Tanzkonsums ist oder eine Voraussetzung dafür, dass man Tanz gerne anschaut, wissen wir noch nicht“, so Jola.

Aber sogar bei Laien lässt Tanz offenbar im Geiste das Tanzbein mitschwingen, wenn sie die Darbietung nicht auf Video, sondern live sehen. Die Erregbarkeit der motorischen Kerngebiete für Arm und Hand steigt, während sie indischen Tanz oder Ballett sehen, berichtete Jola im März 2013 im Journal Cognitive Neuroscience. „Man darf die Präsenz des Künstlers und den emotionalen Gehalt des Tanzes nicht unterschätzen“, mahnt sie und leitet aus ihrer Erkenntnis auch eine wichtige Lektion für alle Tanzkognitionsforscher ab: „Wenn wir unsere Studien wie bisher mit Videoaufzeichnungen machen, erfassen wir nicht die Dimension einer realen Tanzdarbietung. Wir müssen uns die Wirkung von Tanz auf den Menschen viel differenzierter anschauen.“

Quelle: Gehirn.info


Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell 3.0 Deutschland Lizenz .

Über den Autor:

Susanne Donner

Susanne Donner schreibt über Themen aus Wissenschaft und Gesellschaft, die sie interessieren und bewegen. Ein Schwerpunkt der Arbeit liegt in den Bereichen Gesundheit, Medizin, Psychologie, Biowissenschaften, Neurowissenschaften, Bioethik, Nachhaltigkeit und Umwelt. Susanne Donner wurde mit drei Journalistenpreisen ausgezeichnet.

Ihre Artikel sind in Magazinen wie bild der wissenschaft, SZ Magazin, Reportagen, stern, Focus, Focus Gesundheit, natur, MIT Technology Review, Psychologie Heute, WirtschaftsWoche, Zeit Wissen, Wunderwelt Wissen, Spick und in verschiedenen Zeitungen erschienen darunter Die Zeit, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Der Freitag, Die Welt, Der Tagesspiegel, Neue Züricher Zeitung, Stuttgarter Zeitung, SonntagsZeitung (Ch) und Süddeutsche Zeitung.

Leave a Comment